Die meisten Lebensmittel enthalten natürlicherweise Glutaminsäure. Sie ist entweder als Aminosäure im Protein gebunden oder kommt in freier Form vor. In Tomaten beispielsweise wie im Parmesankäse auch ist viel freies Glutamat vorhanden. Schon während der Reifung oder Verkäsung wird ein Teil der Glutaminsäure aufgespaltet. So wird das vorher im Eiweiß gebundene Glutamatmolekül frei.[73] Der größte Teil des Glutamats, welches zuvor als Glutaminsäure im Eiweiß gebunden war, wird aber während der Verdauung freigesetzt. Ein Liter Kuhmilch enthält beispielsweise 3,3 Prozent Eiweiß, aus den sieben Gramm Glutamat frei werden können. Fleisch enthält etwa 20 Prozent und Parmesankäse etwa 32 Prozent Eiweiß. Aus 250 Gramm Fleisch oder 100 Gramm Parmesankäse können knapp acht Gramm Glutamat frei werden.[74] Dieser hohe Anteil von freiem Glutamat in den natürlichen Lebensmitteln macht ebenfalls vermehrt Appetit auf diese Zutaten. Eine deutschlandweite Befragung ergab daher nicht überraschend, dass Pizza und Spagetti ganz vorne auf der Liste der Lieblingsessen stehen. Vor allem ist es das Weizenmehl, das wegen seines hohen Glutamatgehalts oft Appetit darauf macht.
Im Unterschied zum zugesetzten Glutamat in L-Form geschieht die Freisetzung des Glutamats durch die Verdauungsenzyme sehr viel langsamer. Es braucht Stunden, gerade dann, wenn schwer verdauliche Lebensmittel (Fett) die Magenentleerung verlangsamen.
Die folgende Tabelle soll einen Überblick verschaffen, wie hoch der Gehalt an Energie (in Kilokalorien), Protein und Kohlenhydraten in bestimmten Lebensmitteln ist. Daneben erscheint das proteingebundene Glutamat, der prozentuale Glutamatanteil im Protein und letztlich das freie Glutamat je 100g Nahrungsmittel. Diese Tabelle ist nach dem Anteil an freiem Glutamat pro 100 Gramm aufsteigend sortiert. Die Tabelle verdeutlicht auf diese Weise, weshalb gerade lang gereifter Käse, getrockneter Schinken aber auch Nüsse so gut schmecken.
Tabelle 1: Energiedichte (kcal) pro 100g in ausgesuchten Lebensmitteln, Gehalte an Protein (g), Kohlenhydraten (g) und proteingebundenem Glutamat (mg), prozentualer Glutamatanteil im Protein (%), freies Glutamat (mg) pro 100g
Quelle: vgl. Hermanussen, M., Gonder, U.: Der Gefräßigmacher. Wie uns Glutamat zu Kopfe steigt und warum wir immer dicker werden. S. 122 ff
Die Aufspaltung (Hydrolyse) von Milcheiweiß, Hefe oder Weizeneiweiß führt bei Fertigprodukten durch den Kochprozess ebenfalls zur Freisetzung von molekularem, also freiem Glutamat.[75] Eigentlich wäre eine weitere Zugabe von Mononatriumglutamat gar nicht notwendig.
In dem Stoffwechsellabor der Universitätsklinik Heidelberg wurden die Aminosäuren zweier Fertiggerichte analysiert: Zum einen Ravioli aus der Dose, zum anderen vegetarische Spagetti. Die erste wurde angepriesen, ohne Zugabe von Geschmacksverstärker Glutamat zu sein, die andere war ohne Fleisch und als besonders fettarm und ohne Konservierungsstoffe gekennzeichnet. Es geht hier nicht um die Überprüfung des Wahrheitsgehaltes. Die folgende Abbildung soll vielmehr zeigen, wie identisch die beiden Muster von freien Aminosäuren in den unterschiedlichen Dosen sind.[76]
Abb. 4: Analyse der Aminosäuremuster von Ravioli und Spagetti (unten) aus der Dose
Quelle: Hermanussen, M., Gonder, U.: Der Gefräßigmacher. Wie uns Glutamat zu Kopfe steigt und warum wir immer dicker werden. S. 127
Diese Analyse zeigt, dass mit der gleichen Konzentration von freien Aminosäuren unterschiedliche Speisen auf technischem Wege geschmacklich dahingehend optimiert werden, den globalen Geschmack weitestgehend zu treffen. Selbst der Gehalt an freiem Glutamat ist in der geworbenen Dose „ohne Geschmacksverstärker Glutamat“ lediglich um ein Drittel geringer als in der anderen Dose. Nur die kleine Spitze der Aminosäureverbindung Carnosin (carn) (grün markiert) zeigt, dass in der einen Speise tatsächlich Fleisch enthalten ist.
Dies zeigt auf, dass der Industrie daran gelegen ist, den Lebensmitteln stets den gleichen Geschmack zu geben, um die weltweite identische Geschmackserwartung zu erfüllen und das gleichzeitig bei individuellen Vorlieben, bezüglich der Produktetikettierung. Es geht zusätzlich darum, dass der Verbraucher sich mit dem Nahrungsmittel identifizieren kann, sei es durch die Bevorzugung fettarmer Speisen oder die Ausrichtung auf Speisen ohne Geschmacksverstärker.
Bestätigt wurde dies durch einen zweiten Versuch der Klinik Heidelberg: Bei einem Geschmackstest wurden sechs Fertigprodukte püriert. „In diesen Tests konnten nur 18 von 68 Personen Pizza und Ravioli von Spagetti, Hähnchen Cordon Bleu oder Cheeseburger unterscheiden. Lediglich Linsensuppe wurde von vielen am Geschmack erkannt. Ein Drittel der Testpersonen war nicht in der Lage, wenigstens drei der sechs Proben richtig einzuordnen.“[77]
Das Essverhalten wird nicht nur von der Geschmacksprägung unserer Eltern bestimmt, sondern verlangt auch nach Veränderung. Während des Essens wird nicht nur der Geschmack wahrgenommen, sondern auch die anderen sensorischen Eigenschaften wie Aussehen, Geruch und Gefüge. Wissenschaftler sprechen diesbezüglich von einer „sensorischen Sättigung“. Dieses Verlangen nach veränderter Sinneswahrnehmung ist wahrscheinlich ein menschlicher Urinstinkt, der einer einseitigen Ernährung entgegenwirken soll, denn ein abwechslungs-reiches Essen enthält die wichtige Vielfalt der Nährstoffe.[78]
Die Nahrungsmittelindustrie weiß von diesen Mechanismen und konzipiert ihre Produkte dahingehend. Die Produkte bieten geschmacklich das Gewohnte und variieren in der Form.[79] Das ist der Grund, weshalb es den Probanden so schwer gefallen ist, die unterschiedlichen Speisen im pürierten Zustand zu erkennen.
Der Industrie gelingt es mit diesen Produktstrategien die Kunden zum Kauf unterschiedlicher Produkte ihrer Herstellung zu bewegen. Das Geschmacksprofil ist wiederholbar und wieder erkennbar und das bei abwechslungsreicher Kost. Dabei hat die Zugabe von Glutamat für die Industrie einen nicht unbedeutenden Vorteil. Sowohl mit dem Eingreifen in die Appetitregulation als Neurotransmitter als auch mit der soeben beschriebenen Geschmacksreizung verfolgt die Industrie ein wichtiges Ziel: Sie wollen den Verbraucher an ihre Produkte binden. Und zwar im stets wachsenden Maße. Die Verbraucher sollen nicht nur häufiger zu ihren Produkten greifen, sondern gleichzeitig mehr davon pro Mahlzeit vertilgen. „Der weltweite Absatz [von Glutamat] hat sich von 1976 bis 2005 versechsfacht, auf 1,7 Millionen Tonnen pro Jahr. Das weiße Pulver ist in nahezu allen Fertigsuppen, Soßen, salzigen und würzigen Sachen im Supermarkt enthalten.“[80]
Fettsucht ist heute inzwischen sogar ein Problem der Entwicklungsländer. Ein Viertel der weiblichen Bevölkerung, die in Städten lebt, ist übergewichtig. Wie bei uns ist dies vor allem ein Problem der unteren sozialen Schichten. Grund ist der zunehmende Verzehr westlicher Nahrungsmittel, die dort ebenfalls in immer größeren Mengen importiert werden.[81]
Convenience kommt aus dem Englischen und bedeutet „Annehmlichkeit“ oder auch „Bequemlichkeit“. Unter „Conventience Food“ verstehen sich „industriell gefertigte Lebensmittel, die weitgehend küchenfertig vorbereitet oder tisch- oder verzehrfertig sind und dadurch Vor- und Zubereitungsarbeit ersparen. Zu den vorgefertigten Lebensmitteln gehören garfertige Lebensmittel, tischfertige Speisen, verzehrfertige Speisen, Instanterzeugnisse, Kurzkochspeisen (besonders auf Getreide- und Hülsenfruchtbasis), Kartoffelveredelungs-produkte, kalt quellende Nachtische auf Getreide- und Stärkebasis, fertige Teigmischungen oder auch Trockenmüslis. Der Einsatz von vorgefertigten Lebensmitteln spart beim Anwender Energie, Zeit, Lagerplatz, Transportkosten und beim Großverbraucher Gerät und Investitionskosten und erlaubt zugleich, das Speisenangebot zu erweitern“[82]. Gerade die Systemgastronomie bedient sich dieser vorgefertigten Einheitsware.
Gerade diese industriell gefertigten Lebensmittel rufen bei einigen Verbrauchern Unbehagen hervor. Unabhängig von den Jahreszeiten und den Anbau- bzw. Produktionsorten steht ganzjährig auf Grund der industriellen Verarbeitungstechnik ein breites Lebensmittelangebot zur Verfügung. Damit stiegen bei dem Verbraucher auch die Bedenken gegenüber der Lebensmittelqualität. Gerade Titel wie „Chemie in Lebensmitteln“ von Johannes F. Diehl und „Alles bio oder was? Der schöne Traum vom natürlichen Essen.“ von Hans-Ulrich Grimm, die von den Medien mit großem Interesse aufgegriffen werden, sogen dafür, dass die Konsumenten den Herstellungsverfahren der industriellen Massenproduktion (wenigsten kurzzeitig) kritisch...